Ich wusste nicht weiter
Erfahrungen und Erlebnisse

Ich wusste nicht weiter

Ende Juli 2007 entschied ich mich das erste Mal, in die Psychiatrie zu gehen, freiwillig, ich wusste einfach nicht weiter. Nun, eigentlich wurde mir die Entscheidung abgenommen, denn ich war psychisch dermaßen instabil, dass ich meiner Arbeit eigentlich nicht mehr wirklich nachgehen konnte, mein Leben lag in Scherben und mein Arm war übersäht von selbst zugefügten Verletzungen. Ärzte suchte ich schon lange keine mehr auf, denn ich hatte kein Vertrauen in Menschen.

Einer Bekannten fielen die Verbände jedoch eines Tages auf und sie hat mich einfach ins Auto gesetzt und zu ihrer Hausärztin gefahren. An einem Samstag. Heute bin ich dieser Bekannten dankbar. Auch wenn sie sich später als eine hinterhältige Person herausstellte, an diesem Tag hat sie mir das Leben gerettet. Besagte Ärztin schrieb mich krank, verlangte aber von mir, dass ich mich an dem folgenden Montag in der Tagesklinik vorstellte.

Mein Leben an dem Punkt

Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich in einer Spedition, hatte einen Vorgesetzten, der mit Liebe seine Angestellten mobbte und wo Stress eigentlich immer herrschte. Nachts klingelte auch gerne mal das Diensttelefon weil irgendwas passiert war. Dass der Chef absolut kontrollsüchtig war und sogar in seinem Urlaub auf Mallorca jeden Tag um kurz vor fünf anrief um mit jedem im Büro zu reden – früher gehen ging also nicht – setzte dem ganzen noch die Krone auf.

Von meinem nicht existenten Privatleben rede ich hier mal nicht, das kommt irgendwann später, hatte ich es doch gerade erst geschafft aus einer toxischen Beziehung zu entkommen. Es lag also eigentlich alles in Trümmern, sogar meine Finanzen.

Und irgendeine Stimme ganz tief in mir sagte, die Ärztin hätte Recht, ich brauche Hilfe. Also bin ich montags zur Klinik und dort wurde mir dann nach einem Gespräch mitgeteilt, dass ich für die Tagesklinik viel zu instabil wäre, aber auf Station würden sie mich aufnehmen. Also fuhr ich wieder nach Hause, packte meine Tasche und ließ mich stationär aufnehmen.

In die Klinik

Dabei legte ich noch einen drauf und war zwei Wochen lang freiwillig auf der geschlossenen, bevor ich vier weitere Wochen auf der offenen Station wahr.

Heute soll es aber nicht um meine Erfahrungen in der Klinik gehen, sondern um etwas, was in dieser Zeit geschehen ist und was mich maßgeblich beeinflusst hat, Peer-Berater zu werden.

Wie in jedem anderen Krankenhaus auch, wurde auch hier ein Aufnahmegespräch geführt. Unter anderem wurde ich gefragt, ob ich schwanger sei. Ich verneinte diese Frage. Weiterhin musste ich einen Urintest abgeben, der vorrangig auf Drogen getestet wurde aber auch auf Schwangerschaftshormone.

Ich war schwanger und wusste es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Meine Periode kam eh unregelmäßig was auf meinen Alkoholkonsum und meine unregelmäßiges Leben zurück zu führen war.

Das Versäumnis der Ärzte

Normalerweise sollte jetzt der behandelnde Arzt den Patienten darüber informieren. Geschah bei mir nicht. Ich bekam während meiner Zeit auf der Station schwere Psychopharmaka, unter anderem Tavor, was bei Schwangeren nicht gegeben werden sollte. Im Nachgang frage ich mich, warum dieser Schwangerschaftstest überhaupt gemacht wurde, wenn er nicht beachtet wurde.

Denn als ich meine eigenen Entlassungspapiere nach sechs Wochen in der Hand hielt, sah ich den Vermerk erst. Während meines gesamten Klinikaufenthaltes hat mich keiner informiert, niemandem ist aufgefallen dass ich obwohl über einem Monat Aufenthalt meine Periode nicht bekommen habe. Niemand hat mit mir darüber gesprochen.

Ich kam also aus der Klinik und war in der zehnten Woche schwanger. Als ich das obligatorische Gespräch bei meiner, mittlerweile, Hausärztin aufnahm – es war die gleiche Ärztin, die mich Wochen vorher in die Klinik geschickt hatte – wies ich sie genau darauf hin. Ich war zu diesem Zeitpunkt einfach nur verängstigt, überfordert und kam mit der ganzen Situation nicht klar.

Ein Kind?

Mein damaliger Freund hatte schon zwei Kinder aus erster Ehe und eigentlich, wenn ich im Nachgang ganz ehrlich mit mir bin, konnte ich mir auch nicht vorstellen mit ihm zusammen ein Kind groß zu ziehen. Die Beziehung war genauso toxisch wie die vorherige, nur hatte ich das zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkannt. Das sollte auch noch gut fünf Jahre dauern.

Meine Hausärztin tat das Einzige, was in dieser Situation sinnvoll war: sie rief eine Frauenärztin an und schickte mich zwei Straßen weiter und ich kam sofort dran. Bei der Frauenärztin fing ich dann an zu weinen, meine Gedanken spielten verrückt und ich hatte keine Ahnung wie es weiter gehen sollte.

Wie soll das gehen?

Ich war krank geschrieben, arbeitslos, nahm schwere Psychopharmaka, war gerade erst in eine neue Wohnung mit meinem damaligen Freund gezogen, versuchte meine Schulden abzubezahlen und allgemein wieder auf die Füße zu kommen. Und dann ein Kind?

Die Ärztin nahm sich wirklich Zeit für mich, zeigte mir verschiedene Möglichkeiten auf und informierte mich auch über die Nebenwirkungen der Medikamente. Da ich diese schon seit Wochen nahm, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das Kind krank oder behindert zur Welt kam.

Ich ging nach Hause, ohne Mutterpass, denn ich wusste nicht, ob ich das Kind bekommen würde wollen. Ich rief meine Betreuerin an, die ich seit der ersten Woche im Krankenhaus hatte. Sie kam sofort vorbei und mit meinem damaligen Freund zusammen saßen wir in der kleinen Küche unserer Zwei-Zimmer-Wohnung. Beide rieten mir zu einem Abbruch, die Ärztin hatte mir zu einem Abbruch geraten, allein wegen der Medikamente und der Situation in der ich mich befand.

„Das schaffen Sie nicht.“

Meine Betreuerin sagte knallhart „Das schaffen Sie nicht.“

Keiner der Beteiligten vermittelte mir auch nur den Hauch einer anderen Perspektive. Und ich selber war zu schwach, zu verunsichert, zu klein um mir selber Mut zu machen.

Ich rief am nächsten Tag die Ärztin an, eine Stunde später saß ich wieder bei ihr. Sie vermittelte mich mit meiner Entscheidung an einen Kollegen in der nächsten Stadt. Auch hier konnte ich sofort durchfahren, denn mir blieben nur noch wenige Tage Zeit, um den Abbruch durchzuziehen.

Der Arzt war professionell, stellte zu keiner Zeit meine Entscheidung in Frage und erklärte mir den Ablauf. Er organisierte für mich, die mit allem überfordert war, ein Beratungsgespräch bei Pro Familia und auch hier konnte ich binnen Stundenfrist vorbei schauen.

Die Dame bei Pro Familia hörte sich geduldig und genau an, was los war, schüttelte den Kopf, als sie erfuhr, dass ich in der Klinik zu keinem Zeitpunkt über die Schwangerschaft informiert wurde und konnte den Wunsch nach einem Abbruch verstehen.

Ohne großartig andere Möglichkeiten zu besprechen, bekam ich meinen Beratungsschein, brachte ihn zurück zu meinem Arzt und bekam dann ein Rezept für ein Vaginal-Zäpfchen und einen Termin drei Tage später.

Drei Tage Wartezeit müssen zwischen Beratungsgespräch und Abbruch stattfinden, falls man sich doch noch um entscheidet.

In den nächsten drei Tagen schlief ich kaum und ich werde niemals die Schmerzen nach dem Eingriff vergessen.

Und ich?

In all den Tagen, weder vor dem Abbruch, noch danach, nahm sich jemand die Zeit, wirklich herauszufinden, wie es mir damit geht. Ich war überfordert und alle um mich herum sahen nur das. Keiner hat mir zugetraut, dieses Kind groß zu ziehen, keiner hat mir Mut gemacht, dass ich das schaffen könnte, keiner hat mehr gesehen, als meine Probleme.

In dieser Geschichte ist verdammt viel schief gelaufen. Versäumnisse von Ärzten haben mir die Zeit genommen, mich mit der Situation gebührend auseinander zu setzen, die Menschen, die mir eigentlich Mut machen sollten, haben genau das Gegenteil getan und keiner hat wirklich für mich Partei ergriffen.

Es ist dieses Erlebnis, das mich geprägt hat: ich stand alleine da! Für mich ganz alleine, unter einem Druck eine Lebensentscheidung zu treffen. Ohne jemanden, der an mich glaubt. Im Nachgang betrachtet weiß ich immer noch nicht, ob es die richtige Entscheidung gewesen ist. Ich habe ein Leben genommen, mit meiner Entscheidung, etwas, was ich niemals tun wollte. So nicht und nicht anders.

Hatte ich damals eine Wahl? Ich glaube fast nicht, aber ich hätte sie gerne gehabt, ich hätte gerne geglaubt, dass ich es schaffen kann.

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1 Kommentar

  1. […] meinen Standpunkt stehe wieder einmal eine persönliche Geschichte: vor etwa sechzehn Jahren, mit Mitte zwanzig, wurde ich schwanger. Und der Moment, der für die […]

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