Toxische Sätze meiner Kindheit
Borderline Erfahrungen und Erlebnisse

Toxische Sätze meiner Kindheit – Teil 1

Toxische Sätze meiner Kindheit

Jeder kennt sie vermutlich, diese Sätze aus der Kindheit, die einem im Gedächtnis geblieben sind. Oftmals nicht, weil sie einem besonders in der Entwicklung geholfen haben, sondern weil sie im Nachgang betrachtet unglaublich toxisch waren.

In meiner Kindheit bin ich irgendwie zwischen meinen Eltern und meinen Großeltern hin- und hergewandert. Meine Eltern waren ständig arbeiten, sodass ich unter der Woche eigentlich immer bei meinen Großeltern war. Besser wurde es, als das Haus meiner Eltern auf dem gleichen Grundstück stand – oder auch nicht. Das ist hier Sichtweise.

Dieser Kurzausflug in meine damalige Wohnsituation ist wichtig, um zu verstehen, warum meine Großeltern dermaßen in meine Erziehung involviert waren. 

Aber nun zum eigentlichen Thema: die “besten” toxischen Sätze meiner Kindheit!

“Du musst das verstehen, dein Vater hatte eine schwere Kindheit.”

Nun, dieser Satz hat mich in etwa mein gesamtes Leben begleitet. Verstanden habe ich ihn erst als Erwachsene und als ich mich mit der Generation meines Vaters beschäftigt habe. Denn als Kind versteht man solche Zusammenhänge nicht. Und man muss sie auch nicht verstehen. Als Kind habe ich mir nur gewünscht, dass meine Eltern mich lieben und Zeit für mich haben. 

Ich wusste nichts über die Kindheit meines Vaters, ich wusste nur, wenn ich irgendetwas sagte oder machte, was ihm nicht gefiel – und ganz ehrlich, das änderte sich zum Teil täglich bis stündlich, was in diese Kategorie fiel – wurde er verletzend oder ging beleidigt weg. Was ich denn wieder falsch gemacht hatte, konnte ich mir selber aussuchen. 

Meine Mutter kannte nur den Satz “Du musst das verstehen, dein Vater hatte eine schwere Kindheit.” Sie entschuldigte jede seiner Handlungen mit diesem Satz. JEDE! Und ich verstand es nicht. Ich war ein Kind. Ich konnte keine Zusammenhänge erkennen, weil sie mir keiner erklärte, ich wusste von der Kindheit meines Vaters nichts, außer, dass sie schwer war. 

Als Erwachsene habe ich die wenigen Fragmente, die ich im Laufe der Jahre erfahren habe, zu einem Bild zusammen setzen können. Bücher, Berichte und Dokumentationen anderer Lebensgeschichten, die wie mein Vater Ende der vierziger Jahre in Deutschland geboren wurden, die in den Fünfzigern und Sechzigern Zeit in Kinderheimen und Erziehungsanstalten verbracht haben, brachte mich nah an die Erlebnisse meines Vaters.

Ich begann zu verstehen. Dreißig Jahre nachdem der Satz meine Kindheit schwer gemacht hat. 

“Das macht ein Mädchen nicht.”

Die berühmte Rosa-Blau-Falle war in meiner Kindheit allgegenwärtig. Ich bin zu Beginn der Achtziger Jahre geboren. Es gab den Unterschied zwischen Mädchen und Jungen noch deutlicher in der Erziehung als heute. Für mich war er jedoch ein Paradoxon, denn hier war ich der Spielball zweier Erziehungsmodelle.

So sehr mein Vater manchmal auch unberechenbar und beleidigend, ja verletzend war, so sehr war er der Meinung, es ist egal, ob das ein Mädchen oder ein Junge ist. Das Kind probiert sich aus, ob mit Autos oder Barbies, ob auf Bäume klettern oder Teeparty spielen – laut meinem Vater sollte ich alles ausprobieren. Seine Devise: „Nur ein dreckiges Kind ist ein glückliches Kind”. Und ich war oft genug ein dreckiges Kind. 

Wir hatten einen großen Garten, ich kletterte auf Bäume, hatte einen Sandkasten, backte Schlammkuchen und spielte auf der Baustelle meines Elternhauses. Ich hatte schon früh Zugang zu Werkzeug – echtem, nicht dem Kinderspielzeug – und durfte Hämmern, Schrauben und, unter Aufsicht, Sägen. Ich wollte alles austesten. Ich hatte Autos, Lego, Barbies… eigentlich eine bunte Sammlung.

Doch ich hatte auch einen Großvater, der in den Zwanzigern geboren wurde. Und mein Großvater war schwul, meine Oma und meine Mutter waren die Alibi-Familie, die Familie, die ihn davor schütze erneut krankenhausreif geschlagen zu werden.

Und ähnlich wie meine Mutter, wollte er mich zu einer “feinen Dame” erziehen. Kletterte ich auf einen Baum, stand er darunter und brüllte: “Komm sofort runter, das macht ein Mädchen nicht.” Waren meine Klamotten vom Spielen dreckig, bekam ich zu hören: “Du hast dich wieder eingesaut, das macht ein Mädchen nicht.” 

Ich habe mehr als einen Streit zwischen meinem Vater und meinem Großvater mitbekommen, darüber, was ich darf und was ich nicht darf. Irgendwann traute ich mich nicht mehr, auf die Bäume zu klettern. Mein Großvater war unglaublich kontrollierend, und ich hatte immer Angst davor, dass er mich bei etwas sieht, was seiner Meinung nach “ein Mädchen nicht macht.”

Denkwürdig ist mir ein Kleidungseinkauf in Erinnerung geblieben. Ich war sechs oder sieben Jahre alt und Oma sagte mir, ich dürfe mir ein Set aussuchen. Wir fuhren nach Adler und ich entdeckte schnell etwas, was mir gefiel: eine schwarze Lederimitathose, eine weiße Rüschenbluse und eine passende schwarze Weste! Ich liebte es! 

Eine kleine Randanmerkung: mein Kleidungsstil hat sich seitdem nicht verändert!

Nun, mein Großvater war der Meinung, sowas trägt man als Mädchen nicht, und ich musste mir das rosa Set aussuchen! Ich habe es gehasst. 

“Wenn andere von einer Brücke springen, springst du dann auch?”

Ich glaube, diesen Satz kennt jeder Jugendliche. Zumindest aus meiner Generation. Ob es den heute auch noch gibt, so oder so ähnlich, kann ich nicht sagen. Aber ganz ehrlich: was sollte das?

Natürlich würde ich nicht hinterherspringen, aber das gleich zu setzen mit dem Wunsch nach bestimmten Dingen, ist Äpfel mit Birnen zu vergleichen. 

Ein konkretes Beispiel: In meiner Jugend hatten meine Klassenkameraden Eastpack Rucksäcke, ich wollte auch einen. Ich wollte wenigstens ein bisschen dazu gehören, war ich doch schon der Außenseiter. Als ich diese Bitte vor brachte, bekam ich den oben genannten Satz zu hören. Heute weiß ich, meine Eltern wollten den Rucksack nicht kaufen, weil er so teuer war und man ja davon ausgehen müsste, dass ich den nicht lange tragen würde. 

Hätte diese Erklärung mir mehr gebracht? Ich weiß es nicht, aber ich glaube, wenn meine Eltern mir klipp und klar gesagt hätten, der ist zu teuer, hätte ich wenigstens gewusst, warum. 

So ging es bei vielen Dingen. Irgendwann konnte ich den Satz runter beten. Aber ich weiß bis heute nicht, was eigentlich die Bedeutung dahinter ist. 

“Gib dem Onkel doch ein Küsschen.” / ”Willst du XY nicht in den Arm nehmen?”

Diese oder ähnliche Sätze kennen wohl die meisten Menschen. Und es ist schlimm, richtig schlimm, wenn man das als Kind, gerade als Mädchen, zu hören bekommt. Denn es ist nichts anderes, als das Überschreiten einer Grenze und die Message, dass die eigenen Gefühle, das eigene Unwohlsein an dieser Stelle nicht angebracht ist.

Es wird also erwartet, dass man etwas macht, was man absolut nicht machen möchte. Auch hier waren es meine Großeltern, die diesen Satz wiederholt sagten. Meine Eltern haben mich nie dazu aufgefordert, diese Grenze zu überschreiten. Das soll kein Großeltern Bashing werden, aber hier ist auch wieder die Generation mit im Spiel.

Spinnt man den Faden weiter, den dieser Satz impliziert, so kommt man schnell zu einer erwachsenen Person, die ihre eigenen Grenzen bezüglich Nähe nicht stecken kann. So ging es mir lange Jahre, bis zu dem Punkt, an dem körperliche Nähe für mich unerträglich wurde. Sie war immer mit einem Zwang belegt, mit einem Gefühl davon, dass mein Gegenüber das Recht hat zu bestimmen, wie weit er geht und nicht ich. 

In meinen Augen ist das vielleicht der toxische Satz schlechthin. Denn er ist eine riesige Grenzüberschreitung und ein Signal, dass man nicht selber bestimmen darf, wen man in den Arm nimmt oder wem man einen Kuss gibt. Und das kann schwerwiegende Folgen haben.


Photo by Beth Jnr on Unsplash

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1 Kommentar

  1. […] Heute gibt es Teil 2 der „besten“ toxischen Sätze meiner Kindheit! Teil 1 findet ihr unter diesem Link! […]

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