Plakative Überschriften wie „Behinderte in der Werkstatt müssen das Essen selber bezahlen“ sollen auf Missstände aufmerksam machen. Ich bin ja immer dafür, dass genau das geschieht, Missstände bekannt werden und ja, auch ich polarisiere gerne.
Ich erinnere nur an den Beitrag „Ich wünschte ich würde im Rollstuhl sitzen“.
Was ich nicht mag ist, wenn nach plakativen Überschriften wenig bis gar kein Inhalt folgt oder der Inhalt mit Lügen oder Halbwarheiten oder noch besser, Halbwissen gefüllt ist.
Also, was ist dran an der Sache, dass Behinderte in der Werkstatt ihr Essen selber bezahlen müssen?
Die Verpflegung auf der Arbeit
Ich habe einige Jahre auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gearbeitet und hatte in dieser Zeit keine einzige Firma, in der es eine Kantine gab. Geschweige denn, dass ich Essen gestellt bekommen habe. Das höchste der Gefühle war Wasser, Kaffee und Tee, der von der Firma bezahlt wurde. Und auch das kam nicht überall vor.
In der Küche gab es die Kaffeekasse, man brachte sich entweder von zu Hause Getränke mit oder bunkerte etwas unter seinem Tisch. Essen kam in der Brotbox mit oder es wurde sich mittags etwas geholt. Als Speditionskauffrau lagen die Büros in denen ich gearbeitet habe oft genug in Industriegebieten, da war es dann also wirklich die Brotbox oder etwas, was man in der Mikrowelle aufwärmen konnte.
Die meisten Menschen kennen das sicherlich. Wer eine Kantine auf der Arbeit hat, muss oft genug selber bezahlen.
Warum wird also mit dieser Aussage polarisiert und wie sieht es eigentlich wirklich aus?
Verpflegung bei Reha-Maßnahmen
Anders sieht es oftmals bei Reha-Maßnahmen aus. Auch da habe ich einige erlebt, in Berufsförderungswerken, in beruflichen Trainingszentren. Und auch in einer Werkstatt für behinderte Menschen.
In allen diesen Einrichtungen bekam ich ein Mittagessen. Kostenfrei. Und eine kleine Randnotiz: ich habe von wirklich gutem Essen bis hin zu „Ich lass es lieber und bring mir was mit“ alles erlebt. Aber das wirklich nur am Rande.
Und auch in der Behindertenwerkstatt habe ich eine Reha-Maßnahme gemacht. Und bekam Mittagessen.
Pauschal kann man nicht sagen, dass jeder in der Behindertenwerkstatt sein Essen selber bezahlen muss. Denn auch da gibt es Differenzierungen, nur die werden bei einer Polarisierung eben nicht beachtet.
Also, wer bekommt sein Essen nicht bezahlt?
Ich zum Beispiel. Ich bin in keiner Reha-Maßnahme mehr und arbeite im sogenannten Werkstattbereich. Und ich bin nicht auf Sozialhilfe angewiesen, da ich die volle Erwerbsminderungsrente beziehe plus die Vergütung durch meine Werkstatt.
Meine Kollegin neben mir macht derzeit noch ein Praktikum bei uns, bekommt ebenfalls Erwerbsminderungsrente aber keine Vergütung durch die Alexianer. Sie wartet auf ihre Reha-Genehmigung. Sie bekommt ihr Mittagessen bezahlt.
Auch die Kollegen, die Sozialhilfe beziehen, bekommen ein kostenloses Mittagessen.
Um das Ganze jetzt einmal per Paragraf zu untermauern: §42b des SGB XII besagt – in leichte Sprache übersetzt – dass alle Menschen, die in Werkstätten arbeiten und Grundsicherung erhalten, ihr Mittagessen bezahlt bekommen.
Die Diskrepanz zu vorher ist ganz einfach: Eine Gesetzesänderung hat dafür gesorgt dass nicht mehr jeder pauschal sein Mittagessen bezahlt bekommt. Das liegt am Bundesteilhabegesetz und mit einer Änderung, dass die Eingliederungshilfe vom SGB XII ins SGB IX „gewandert“ ist. Jetzt werden Fachleistung zur Eingliederung und Leistungen zum Lebensunterhalt getrennt. Daher wird das Mittagessen in den Werkstätten bereits seit Anfang 2021 nicht mehr bezahlt.
Wer aber Leistungen zur Grundsicherung nach dem SGB XII bezieht – sogenannte Grundsicherung – kann das Essen weiterhin bezahlt bekommen, mit 3,57 € pro Tag.
Theoretisch müssen die Beschäftigten dafür in Vorleistung treten und bekommen es dann über den Rahmen des Mehrbedarfs erstattet. Unsere Werkstatt erleichtert uns die Arbeit diesbezüglich, da sie gesammelt für alle Beschäftigten, die diesen Anspruch haben, den Mehrbedarf geltend macht. So müssen wir nur noch den Antrag einreichen und es läuft wieder von alleine.
Warum wird es dann polarisiert?
Aufmerksamkeit. Aber auch hier kann viel falsch gemacht werden. Denn wer nach der Headline nur die Hälfte der Tatsachen erzählt oder Halbwissen als Fakt ausgibt, kann Schaden anrichten.
Auch ich recherchiere immer wieder Fakten für meine Beiträge, auch wenn sie auf Meinung und Erfahrung basieren. Denn die Fakten können meine Aussagen belegen. Und auch ich polarisiere gerne, versuche mit einem schlagkräftigen Titel die Leser zu locken. Denn nur dann lesen die Menschen meine Beiträge, das ist mir bewusst.
Aber wer nur polarisiert ohne Fakten zu liefern, verfälscht schnell das Meinungsbild.
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